Unser Weg ist Afrika, ist unser Weg

 

Unser König war ein wundervolles Wesen, das manchmal

in Gestalt einer großen Katze auftrat. Er hatte einen roten Bart

und grüne Saphiraugen. Er war unzählige Male geboren worden,

war in allen Welten eine Legende und

 

 

 

unter hundert verschiedenen Namen bekannt…

Ben Okri

 

Auf der Suche nach der eigenen Unschuld reisen wir inzwischen schon rund um die ganze Welt und finden sie trotzdem und trotz allem nicht wieder, suchen aber unentwegt weiter, immer mit der leisen Hoffnung, dem Geheimnis eines Tages doch noch auf die Spur zu kommen.

 

1960 emigrierten Verschiedene meiner Generation nach New York, ins geistige Zentrum der neuen Welt und der Künste. Die Bücher von Proust, Joyce und Musil im Gepäck sollten das erhalten, was man glaubte, als Preis bezahlen zu müssen. Alle fragten sich nämlich bei der Ankunft: „Mann, wie schaff’ ich’s in New York.“ Diese Frage stellte auch der Musiker und Komponist Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) aus Kapstadt seinen Kollegen Ornette Coleman, und der wiederum antwortete wie folgt: „Hör zu, Mann: Ich laß mich von denen nicht herumschubsen. Wenn einer kommt und mich für ein Konzert will und offeriert einen Preis, dann sage ich: Wunderbar, aber ich würde am Ende eine Null anhängen!“ Damit konnte man lange Jahre überleben, aber ich denke, das Ritual hat sich inzwischen verändert, auch wenn die Wirklichkeit dieser Tage dagegen spricht.

 

Ich selber blieb in Europa, aber über die Lektüre der Werke von Joseph Conrad lernte ich Afrika, aber auch die verschiedenen Meere und Inseln im fernen Asien kennen. Der „Radetzkymarsch“ erschloß mir dann Mitteleuropa, zumindest dasjenige vor dem Ersten Weltkrieg. Der Architekt Adolf Loos erklärte mir die weiteren Kapitel. Aufgrund der Hinweise von Carl Einstein und Guillaume Apollinaire entdeckten wir in den Völkerkundemuseen die Skulpturen aus Afrika und Ozeanien und damit die Schätze des Primitivismus, wie man sie später zu umschreiben beliebte. Man brachte diese in Verbindung zur europäischen Kunst, verharrte aber dann in formalen Vergleichen. Nebenbei gelang es uns, einen so großartigen Künstler wie Henri Rousseau aus dem Garten der Naiven und Sonntagsmalern zu entführen und ihm den verdienten Ehrenplatz im Olymp der Schönen Künste (Fin e Arts) zuzuweisen, ein Akt, der durch Pablo Picasso bekanntlich bestens vorbe reitet war. Letzterer stammte, als Spanier und Katalane in Paris, von jenseits der Pyrenäen und war geographisch gesehen bereits näher an Afrika als seine französischen Kollegen. Diese wiederum überraschte und erschreckte er 1907 mit seinem künstlerischen wie malerischen Manifest „Les demoiselles d’Avignon“, das den bis dahin geschaffenen wie gesehenen Bildern auf radikale Weise widersprach. Die damals offensichtliche Häßlichkeit dieses Bildes intellektualisierten die Cartesianer fast umgehend, brachten das Gesehene dank Braques Meisterschaft wieder ins Gleichgewicht, zurück zur Harmonie und etikettierten schließlich das Neue mit der Stilbezeichnung Kubismus. Damit ließ sich während langer Jahre die neue Kunst betreiben, Bemühungen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch die junge amerikanische Malerei in Frage gestellt werden sollte. Gleichzeitig entstand durch sie ein neuer Bildraum und wieder Möglichkeiten, die Malerei fortzuführen.

 

Doch die Sehnsucht nach dem nie Gesehenen ist im Pensum noch nicht aufgegangen, auch wenn heute weniger nach der vergessenen Insel, dem verlorenen Kontinent gesucht wird, als nach dem nie gesehenen Bild, dem Bild hinter der Leinwand. Vielleicht ist das alles ja ein spezifisches Problem von deutsch denkenden und sprechenden Menschen, denn eigentümlicherweise läßt sich das Wort Sehnsucht in keine andere Sprache übersetzen. Wo wollen wir denn eigentlich hin?

 

Nicht die Entdeckung an sich ist heute noch wichtig, sondern vielmehr die Möglichkeit, an einem anderen, fremden Ort Fehler ins eigene Netz einzubauen, zwangsweise, denn dort fehlen oft die nötigen technischen Mittel, um in unserem Sinne weiterzukommen, und wir ertappen uns beim Versuch, mit einfachsten Mitteln dem gerade Erfahrenen mit Zeichen und Farben Ausdruck zu geben. Wir lernen dabei, daß es beim Tanzen vielleicht mehr um die Bewegung als um Choreographie geht, wie auch der Flötenspieler viel eher immer wieder versucht, die sechs Löcher seines Instruments untereinander zum Sprechen zu bringen, als der Melodie zu folgen. Afrika lehrte mich, die Dinge anders zu sehen und zu begreifen. Die Folge davon war, daß ich begann, das dort Erfahrene mit Geschichten und in der Erzählung entworfenen Bildern einzukreisen, eine Möglichkeit, die mir weit interessanter erschien, als die Fakten logisch aneinandergereiht vorzutragen. Dabei erinnerte ich mich des Wortes unseres Dichters Peter Bichsel, der einmal sagte, daß wir die Geschichten immer wieder neu zu erzählen hätten, wenn wir sie nicht verlieren wollen.

 

Erkenntnisse dieser Art sind auch Stimulanzien, die wir dringend gebrauchen, um unsere eigene europäische Kultur weiterführen zu können, denn wir wissen, daß unsere Ressourcen am Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends eigentlich bereits zu verbraucht sind, um nochmals Neues schaffen zu können. Angesichts dieser Situation bleibt uns nur noch die Perfektion, das bisher Erreichte zur Vollkommenheit zu treiben, um auf dieser absoluten Höhe zu versuchen, die Kunst wiederzuerkennen. Diese Art von Streben erkennen wir in unserer eigenen Kultur – beispielhaft in der Entwicklung der klassischen Musik.

 

Da wir uns hier im Norden und Osten doch mehr einer erobernden Ästhetik verbunden fühlen, bleibt uns oft kaum etwas anderes übrig, als aufzubrechen, um Neues zu schaffen. Auf der anderen Seite dieses Suchens nach der verlorenen Kreativität  sehen wir die Anstrengungen gebündelt, sich diesem Ausbrechen entgegenzustellen, um das bisher Geschaffene möglichst vollständig ins Generalarchiv der Moderne (Michel Foucault) zu überführen, nicht zuletzt, um es besser verwalten und kontrollieren zu können. Seit dem 18. Jahrhundert zeigen öffentliche Institutionen wie zum Beispiel Banken, Schulen, Spitäler und Kliniken, Gefängnisse - also auch Archive – vergleichbare Grundrisse, die sich bis heute kaum verändert haben, auch wenn die Strukturen der Macht vorgeben, ganz anders zu sein, als zu früheren Zeiten.

 

Trotz dieser das Geistige wie Schöpferische beengenden Situation sind wir aufgebrochen, nicht zuletzt mit der Musik von Abdullah Ibrahim (African Marketplace) in den Ohren, den Büchern von Wole Soyinka, Ben Okri und V. S. Naipaul in der Tasche. Ohne Zweifel, für diese Reise waren wir bestens eingestimmt und vorbereitet. Wir wollten Afrika begegnen. Aber wußten wir, wie wir ihm entgegenzutreten und wie wir es zu begrüßen haben? Wir sind Gäste, aber kennen wir auch die Gesetze der Gastfreundschaft, die in vielen so unterschiedlichen Ländern dieses Kontinents vorherrschen?

 

Da die Grenzen, in unserem Falle diejenigen von Ghana, offenstehen, gibt es für uns Reisende aus dem Norden heute keine Probleme, gastfreundlich aufgenommen zu werden. Trotzdem suchen wir in der Kürze der Zeit nach anderen Eingängen, Möglichkeiten des Zugangs. Alles schien möglich, nichts war vorgegeben, aber irgendwie wurden wir von stillen Kräften angehalten, all das, was wir, im Land uns bewegend, bereits wußten, nochmals neu zu überdenken. Es galt, eine differenziertere Einstellung für den Besuch bei der anderen Kultur zu finden, um später bei der Begegnung mit den Menschen entsprechend vorbereitet zu sein. Aus lauter Eile sollte man sich aber nicht schon am ersten Tag die Ferse brechen, denn in Afrika weiß man, daß die Ferse nie wieder heilen wird.

 

Unsere Zeit in Ghana war wohl zu kurz bemessen, das Tor zu durchschreiten, um in das uns unbekannte Labyrinth einzutreten. Doch schon der Auftritt vor dem Portal genügt ja vielleicht, um das zu finden, was wir versuchten, für uns in Erfahrung zu bringen. Auf jeden Fall brachte uns die Reise nicht nur eine Reihe wichtiger Erkenntnisse, sondern auch einige schöne Gedanken, wo wir in unserem Kulturkreis die Kunst künftig finden und ihr begegnen könnten. So saßen wir, wie im Samurai-Film „Rashomon“, unter den Torbögen und erzählten uns die Geschichten, viele Geschichten. Johanes zeichnete und malte neben uns in aller Ruhe Blatt um Blatt, unter dem Stern einer heilenden Kreativität. Dann brach er auf und ließ sich aus Blechresten einen Koffer biegen und schweißen. Diesen brachte er samt Inhalt nach Hause, und mit ihm seinen Traum von der Reise ins fremde Land, das auf diese Weise für einmal nicht stilisiert noch dem Exotischen preisgegeben wurde.

 

Im Buch „Die hungrige Straße“ von Ben Okri erklärt die Mutter des Protagonisten Azaro einem Weißen, der Afrika verlassen wollte und nicht wußte wie, folgendes: „Viele Wege führen nach Afrika, aber nur einer führt hinaus.“ „Welcher?“ fragte er zurück. Doch sie forderte: „Sagen Sie mir erst, was die Schildkröte vorhin zu mir gesagt hat.“ Jetzt war der Fremde vollständig verwirrt: „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“ – und sie antwortete unbeeindruckt, daß sie ihm gerade deshalb den einzigen Weg, der aus Afrika hinausführt, nicht zeigen würde. Am Ende der längeren Geschichte erkannte der Fremde dann alleine, daß es wirklich nur eine Möglichkeit gäbe, Afrika zu verlassen, und zwar wenn es ihm gelingen könnte, Afrika aus seinem eigenen Körper und Geist herauszubekommen, gleichzeitig aber wußte er, daß dies wiederum nur ein Afrikaner schaffen würde. Als Abschiedsgeschenk überlies er Azaros Mutter seine blaue Sonnenbrille, änderte sein Denken und seine Lebensweise. Einige Zeit später wurde er tatsächlich Afrikaner und meinte beim endgültigen Abschied zur erstaunten Frau: „Liebe Freundin, die Zeit ist anders, als Sie denken.“

 

Das alles spielte sich, wie gesagt, nicht vor den Toren des Kontinents ab, weder in Gibralta, noch in Tanger, sondern im Lande Ghana, wo wir gegebenenfalls am besagten Portal Bier und Whisky vor den Fernsehapparaten der Hotels in Accra, Kumasi oder Tamale saßen, dazu beste Zigarren aus unserem Handgepäck holten und rauchten und uns gleichzeitig die Geschichten vom „African Cup“ der Fußballer von den Kommentatoren der Spiele in Wort und Bild genauestens erklären ließen. Ein eleganter junger Herr in langem farbigem Gewand ereiferte sich an einem der Abende gegen seine gerade spielenden Landsleute, mit denen er offensichtlich nicht zufrieden war, aber im Gegensatz zum Trainer der Mannschaft, der diese effizienter sehen wollte, wünschte er sich, daß das schönere Spiel gewinne, um die gute Laune bei allen Beteiligten zu erhalten. Seine Emotionen erinnerten mich auch daran, in einer afrikanischen Wochenzeitung gelesen zu haben, daß wir, die Fremden, gegnüber einem Intellektuellen Afrikas lernen sollten, uns seine Geschichten in voller Länge anzuhören, eine Möglichkeit, seiner Denkweise und Kultur vielleicht doch einen Schritt näherzukommen, denn unsere schwarzen Freunde wissen schon seit langem: Geduld ist ein Baum, der bittere Wurzeln hat und süße Früchte trägt.

 

 

Aus: Johannes Gachnang, „Unser Weg ist Afrika, ist unser Weg.“, in Johanes Zechner, Der Afrikanische Koffer, Cantz Verlag, Ostfildern 1996