Farbe bekennen!

Anmerkungen zu den Fähnchen und Netzen von Johanes Zechner

 

"wenn das sehen könnte,

wie das beobachten wünschte,

weil das schauen möchte,

dass das starren täte."

Reinhard Priessnitz, entwachtung

 

Johanes Zechner ist viel unterwegs und doch kein Nomade. Das Reisen gehört zu seinen Strategien der Inspiration. Zuweilen führt ihn der Weg weit weg, zuweilen bleibt er lange aus. Seit etwa einem Jahr lebt und arbeitet er in Prag. Alle Fähnchen und Netze sind dort entstanden.

 

Zechner spricht von seiner, in der Arkadenhalle des Rupertinums erstmals aufgebauten Bilderwand als einer "Installation". Er vermittelt so den Eindruck einer unverrückb aren Anordnung der Tuscharbeiten im Raum. Tatsächlich ist die Hängung ein Provisorium. Die mit Stecknadeln angehefteten Blätter sind schnell ab-, um- und wieder aufgehängt. Die Anordnung der Bilder auf der Fläche in Kombination mit den weißen Blättern als optische Leerstellen bzw. Ruhepunkte folgt dem Zufallsprinzip. Im Sinne des "match making" wurden die einzelnen Arbeiten zu Diptychen vereint. Nach Stimmung und Laune entstanden die von Rot durchtränkten Bildpaare, jedes auf seine Weise. Fest steht indessen die Zahl der bemalten Blätter. Insgesamt sind es 284 Stück.

 

Die Diptychen setzen sich aus zwei Papiersorten zusammen. Die eine Hälfte bilden bemalte Fähnchen ohne Holzstäbe. Diese Papierfähnchen stammen allesamt aus einem sozialistischen Restfundus, den Zechner in Prag aufgestöbert hat. Seit dem Anbruch der neokapitalistischen Ära im ehemaligen Ostblock, die rigoros auf Individualismus setzt, besteht an dem egalitären Symbol der kommunistischen Volksmasse kein Bedarf mehr. Das nationale Emblem ist, ins Hochformat gedreht, fast unkenntlich gemacht. Gemessen an dem politischen Kontext der ungarischen, rumänischen, bulgarischen und polnischen Fähnchen ist die zweite Hälfte der Diptychen ein unbeschriebenes Blatt. Sie besteht aus ideologisch-neutralen, weißen Aquarellpapieren, die Zechner mit kommunizierenden Netzstrukturen überzogen hat.

 

Fähnchen und Netze enthält eine vom Künstler selbst getroffene Auswahl aus einem über die Jahre hinweg entwickelten und im Jahr 2001 konzentrierten, gigantischen Konvolut von Zeichnungen. Zechners "Bilder-Atlas" ist geprägt von Imaginations- und Kombinationslust. Er zeigt den Prozeß des Malens als bildgewordenes, wildes Denken. Die künstlerische Reflexion konzentriert sich dabei auf wenige Elemente. Mit Streifen und Schlingen, mit Rastern und Netzen, mit Pfeilen und Kreuzen, mit alchemistischen Gefäßen und Blütenmotiven, mit Kreisformen und Strichlinien verstärkt sie die visuelle Präsentation. Spielerische Momente kommen hinzu. Hier und da gibt es Anklänge an Henri Matisse oder Jasper Johns. Zechner nutzt das Medium der Malerei als einen weit geöffneten Assoziationsraum, in dem Themen aus dem Umkreis von Liebe und Tod, von Alltag und Geschichte, von Politik und Gesellschaft mitschwingen, nicht aber ausgesprochen werden.

 

Manche Maler erzählen Geschichten und Romane. Andere Maler wiederum entwerfen abstrakte Konzepte. Zechner steht mit seinen Fähnchen und Netzen genau dazwischen, zwischen der narrativen Darstellungsstrategie einerseits und der theoretischen Rationalität andererseits. Mit den Diptychen blättert er seine Themenwelt auf. Das starke Erzählbedürfnis des Künstlers schlägt sich in der Fülle der Tuscharbeiten nieder. Für sich betrachtet, sind die Bilder visuelle Aphorismen. Sie zehren von der Anekdote genauso wie von der Aporie.

 

Der Betrachter neigt dazu, kleinformatige Bilder aus der Nähe anzusehen, und in der Tat erschließt sich der ästhetische Reiz der Diptychen während des Abschreitens der langen Bilderwand. Die Blätter in dieser Ausstellung wollen jedoch auch aus der Distanz betrachtet werden. Nur so stellt sich der Eindruck einer offenen Sequenz, einer Serie mit "open end" ein. Die Diptychen lassen sich jedoch in keine logische Reihenfolge auflösen. Zechner geht es nicht um die Entwicklung einer linearen Bilderkette von aufeinanderfolgenden visuellen Schlüssen. Ihn interessiert vielmehr die kybernetisch anmutende Systematik von zahlreichen, in sich abgeschlossenen Kompositionen. Ohne Dramaturgie, ohne Crescendo verweisen die ungleichen Bildpaare aufeinander, sie ergänzen sich und stehen im Kontrast. Zusammen ergeben sie eine rhythmische Struktur, die im Rapport der vertikalen Streifen sichtbar wird.

 

Anders als bei Zechners großformatigen Fahnenbildern in Eitempera, die im Anschluß an seine Reise nach Ghana 1996-97 entstanden, ist die Fahne bei den Diptychen kein Leitmotiv mehr, das die Werkgruppe zusammenhält. Das in den Fahnenbildern stets an den Rand abgedrängte Hoheitszeichen bildet statt dessen in Fähnchen und Netzen eine abstrakte Grundstruktur.

 

In den neunziger Jahre hat Zechner die intensive Auseinandersetzung mit Prosa von Peter Waterhouse und Lyrik von Reinhard Priessnitz gesucht. Sie schlug sich in zwei umfangreichen Textbilder-Zyklen (1996-98) nieder. Mit Fähnchen und Netzen ist er wieder zu seiner eigentlichen Bildsprache zurückgekehrt, dem figurativen Formenvokabular. Die Verbannung des Wortes aus seinen neuen Arbeiten reicht bis in die Titel der Diptychen hinein. Die Blätter werden nicht mehr eigens benannt, sondern jetzt paarweise gezählt. Ihre Numerierung entspricht der Entstehungschronologie.

 

Zechners Diptychen sind affirmative Bilder, und zwar insofern, als sie die visuelle Welt in ihren Grundformen bejahen. "Die Formfindung in meinen Arbeiten", schrieb der Künstler einmal, "ist ein Fortschreiten vom Komplizierten zum Einfachen. Die Formen, über die ich verfüge, haben ihren Ursprung im Chaos. In ihrer Stellung zueinander sind sie bereits angelegt. Manchmal beginne ich meinen Malvorgang mit einem automatistischen Linienknäuel, das mir Vorform liefert, und in der Folge ordne ich das Disparate zur Komposition."

 

Zechner entwickelt eine einfache Zeichensprache, ohne Semiotik und Semantik. Sie richtet sich vehement gegen jene intellektuelle Vereinnahmung, die die Kunst als Austragungsort für ideologische Diskussionen begreift und dabei die aus ihr heraus gestifteten Bedeutungen nicht mehr aus ihrer Beschaffenheit abzuleiten versuchen. Für Zechner ist die Anschaulichkeit der Malerei der überlegene Kontrahent einer philosophischen Aufladung der Kunst zur symbolischen Form oder einer politischen Vereinnahmung gleich welcher Couleur. Zechners tiefe Überzeugung, daß Erkenntnis keine Frage der Logik, sondern Arbeit am Bild ist, gelangt in den visuellen Denkmustern exemplarisch zur Anschauung. Nur wer sich auf ihre beredte Ausdruckform einläßt, ist auch im Bilde.

 

 

Aus: Astrit Schmidt-Burkhardt, „Farbe bekennen!“, in Johanes Zechner, Fähnchen und Netze, Diptychen Prag 2001, 2002