Der Koffer als Fenster zur Welt. Johanes Zechners malerische Meditationen
Der Koffer ist ein Gegenstand. Ein objet. Des Begehrens. Der Sehnsüchte. Also ist er ein Gegenstand der Imagination, der Vorstellungskraft. Er ist gegenständlich und imaginär. So wie alles „Reale“. Nichts kann sich dieser Doppelgestalt entziehen.
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Den Koffer zu einem Kunstobjekt zu erheben, liegt nahe. Rimbauds Koffer. Und Gauguins Kisten. Vergleichbar den Schuhen von Bruce Chatwin. Gegenstände und Fetische. Jedem Gegenstand ist das Fetischhafte eigen. Zechners wahlverwandtschaftliche Nähe zu den archetypischen und ornamentalen Zeichen und Symbolen ritueller Gegenstände (wie etwa die männerbündischen Fahnen der Fante in Ghana) ist offensichtlich. Auffällig, daß er sich in der Fetischbezogenheit extrem weit wegbewegt vom Prozeßhaften und Rituellen, von der In-Szene-Setzung und der Performance.
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Mit der Post bekomme ich heute zwei Kataloge von Zechner zugeschickt: „Bei Bedarf werden die Bilder ausgepackt“, 1995, und „Der afrikanische Koffer“, 1996. Außerdem von der österreichischen Kreditanstalt und einer Versicherungsgesellschaft zwei Prospekte, die mit der Reisetasche als Inbegriff der Seriosität, und dem Koffer, als Inbild von Freizeit und Nichtstun, werben. Für was steht der Koffer in Zechners Installationen?
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Markant in seinem Gesamtwerk, wie stark der Künstler seine malerischen Objekte mit Schrift und Gedanken umstellt, sie auf diese Weise klar, übersichtlich strukturiert. Claude Lévi-Strauss, Jack Kerouac, Bruce Chatwin – Ethnologen, schreibende Dichter liefern maßgebliche Stichworte. Und jetzt der Künstler Forrest Bess. Bei einem Besuch in Zechners Atelier zieht der Künstler aus einem mit schwarz-weißer Tierhaut bezogenen Koffer drei an Bess erinnernde Bilder hervor, an erster Stelle eines, auf dem in schlichten, etwas kindlichen Buchstaben zu lesen ist: „His name was Forrest Bess“. Zechner spielt mit der Phantasie, sich nackt vor der Schrift, vor das, was sie sagt, zu stellen, das heißt, sich einem anderen Ich zeitweise anzuverwandeln, mit der eigenen Identität zu experimentieren.
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Der Ethnologe Marc Augé hat einmal von der „provisorischen Identität“ des Menschen in der surmodernité gesprochen. Der Mensch der „Übermoderne“ als Passagier; die Orte, die er durchquert, als Nicht-Orte und Passagen.
Claudio Magris und György Konrád betonen die ironsichen und spielerischen, kr eativen Formen der Identität der Zukunft. Solche Formulierungen – wie sie von verschiedenen Seiten, vor allem der Ethnologie und Literatur, ins Spiel gebracht werden – kommen der Erfahrung am nächsten, die der Künstler im Umgang mit dem fragilen und sich ständig in neuen Facetten zeigenden und mehrstimmigen Ich macht.
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Die in sich stabile und abgeschlossene Identität ist ein Phantom und ein Wahngebilde.
Jaques Lacan hat das Ich die Geisteskrankheit des Menschen genannt.
Und György Konrád spricht von der Mono-Identität als „prinzipieller Unmöglichkeit“. Stets bewegen wir uns zwischen den Kulturen, inmitten ihrer Kontexte und Verbindungen. Dem entspricht eine offene, mehr- und interkulturelle Identität, die am Austausch von Lebens- und Kommunikationsfomen interessiert ist.
Im Grunde ist der Begriff „Kultur“ – genauso wie Identität – ein Abstraktum, ein Konstrukt; wir kennen nur Kulturen die in Beziehung zueinander stehen. Solange Fremdheit nur im Augenblick der Bedrohung wahrgenommen und der Blick nicht weitergelenkt wird auf die philosophische, die kulturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Dimension dieser Thematik, wird uns das Verhältnis von Eigen und Fremd, von Ich und Anderer bei einer nächsten Bedrohung schon wieder entgleiten.
Das, was man „eigen“ ne nnt, entsteht nur in Relation zu dem, was als „fremd“ erscheint; auf der elementaren sinnlichen Ebene ist dies ein bestimmter Geruch, eine Hautfärbung, eine Haltung, eine „besondere“ Art, sich zu bewegen, zu lachen, zu sprechen. Jedes „seltsame“ Merkmal rundet das eigene Selbstbildnis ab, macht einen mit sich selbst vertrauter.
Erst der sich seiner eigenen Beweglichkeit bewußte Blick erfaßt einen weiten Wahrnehmungsraum und hakt sich nicht in erstarrten Alternativen und Polarisierungen fest: Die Wahrnehmungs- und Erkenntnisposition partizipiert selbst an den morphologischen Prozessen.
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Der Koffer ist ein Fenster zur Welt. Und er ist Teil der Welt. So wie die Objekte bei den Künstlern der „Spurensicherung“, oder bei Richard Long. Oder bei Broodhaers, Der ethnologische Blick des Künstlers auf das Gegenständliche, es durchdringend, es auf seinen Subtext hin und in seinem Kontext lesend – und es, in manchen Fällen, erweiternd auf Ritualisierungen.
Welch ein Privileg des Künstlers, den Gegenstand – angefangen bei Duchamps Pissoir – für sich auszustellen: Steine, Filz, Badewannen, Pflanzen, Rinde, Objekte jedweder Art. Ihnen eine ganz und gar eigene Aura, eine übersichtlich bildnerische, graphische, skulpturale Form und Struktur zu verleihen. Dem Musiker gelingt dies auch, dem Schriftsteller eher selten, zum Beispiel im Haiku oder in der konkreten und visuellen Poesie. Oder Zechner mit seinem Koffer.
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In der Regel füllt der Reisende den Koffer vor der Abreise. Johanes Zechner hat bei seiner Fahrt nach Bay City einen leeren Koffer mitgenommen und ihn bei seiner Spurensuche gefüllt. Der Koffer enthielt nur präpariertes Leinen, vorbereitet für die geistige, emotionale und malerische Auseinandersetzung mit dem Kunst-Lebens-Experimentator Forrest Bess.
Bess’ Experimente mit seinem eigenen Körper und Geschlecht, als unablösbarer Teil seiner Kunst, bleiben bei Zechner nur noch als Chiffre enthalten. Seine Blätter sind weniger von Symbolen als vielmehr von Referenzen an Symbole bestimmt. Es sind, wenn man so will, Symbol-Zitate. Die spannungslösende Kraft, die Bess den Symbolen zusprach, und seine Phantasie, man könne den Klangkörper der Sexualität dann voll zum Klingen bringen, und dies auf ewig, wenn man einen männlichen und einen weiblichen Orgasmus gleichzeitig erlebe, solche gelebten Symbole haben nur noch Verweischarakter; aus dem Symbol-Dickicht ist etwas Flächiges geworden. Das vielschichtig und tragisch Gelebte übersetzt in eine Zeichenabfolge.
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Die Reise als Spurensuche und als Forschung. Der Koffer gibt dabei so etwas wie ein Maß vor. Ähnlich wie ein Fotoalbum. Fotoalben aber haben etwas von einem Grab an sich. Zechners Koffer dagegen gleicht eher einer Wundertüte. Oder einem Archiv des Erinnerns; aber einem Archiv des in jedem Augenblick neu zu Verlebendigenden. Das Erfahrene findet sich darin wieder, jedoch nicht erstarrt, sondern als Möglichkeitsfeld. Auch als Sammlung, im Sinne einer Tätigkeit des Sammelns und einer inneren Sammlung. So könnte man auch von malerischen Meditationen sprechen. Das Besondere dieser Meditationen ist, daß sie im Rahmen von Arrangements und Installationen (nicht Performances) stattfinden. Man könnte von tragbaren Installationen sprechen, provisorischer und nomadischer als diejenigen der uns vertrauten Kunstszene.
Sicher gibt es dabei Unterschiede zwischen Arbeiten, die Zechner im Atelier angefertigt hat, und denen auf Reisen, in einer anderen Kultur, in einem kulturell fremden Kontext. Der dabei immer vorhandene Zeitdruck und die innere Unruhe ermöglichen auch Zugänge zu anderen verborgenen Schichten und Ressourcen im Maler. Der Künstler an den Schnittstellen von Selbst- und Fremdethnographie. Die anthropologische Recherche und die Introspektion als Teil eines künstlerischen Prozesses.
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In Zechners oeuvre gibt es unter anderem schon den „Balkan-Koffer“ und den „Israel-Koffer“ und zahlreiche „Taschen“- und „Beutel“-Arbeiten, Werkgruppen (zu denen sich jetzt auch das Medium des Films hinzugesellt), Werkgruppen im Spannungsfeld von eigener und fremder Kultur, an den Überschneidungen von Zentren und Peripherien.
Kunst als Austausch, potlatch. Man gibt und erhält. Der Künstler als Träger, Botschafter, er bringt sich in die fremde Kultur und stellt sich zur Verfügung, um Gegenstände an Orte zurückzubringen, von denen sie ursprünglich kommen. Globalität als Intimität. Den Synkretismus der Kulturen in symbolische Kommunikation zwischen den Kulturen umsetzen.
Die Rolle des Künstlers verändert sich. Joseph Beuys. Jochen Gerz. Richard Long.
Das Risiko des Mißverstehens fremder Symbole. Wir müssen von innen heraus, aus ihrem kulturellen Symbolsystem, verstehen. Das können wir nur in seltenen Augenblicken. Diesen Augenblicken geben wir im Kunstwerk eine Form – und eine Dauer.
Wenn man nur aus einem einzigen Koffer leben müßte, mit was würde man ihn füllen? Wenn man nur mit einem einzigen Beutel am Körper durch die Welt ginge, was würde man ihm anvertrauen? Diese Frage berührt die philosophische Frage des In-Seins, des Im-Raum-Seins: Wie will man im Raum (kosmos) sein, zentriert und zugleich an der Peripherie? Dauernd und passager?
Aus: Hans-Jürgen Heinrichs, „Der Koffer als Fenster zur Welt. Johanes Zechner malerische Meditationen.“, in Johanes Zechner, Atopia – Die Reise, Kunstverein für Kärnten, Klagenfurt 1999